Kabel klingen, Kugeln schwingen, Leute und Dinge singen
Die Soloschau Environment. A Future Retrospective von Zorka Wollny im TRAFO Center for Contemporary Art Szczecin verwandelt das ehemalige Umspannwerk in ein vielstimmiges Gesamtkunstwerk, das von der Beteiligung des Publikums lebt.
Großer Rummel im ehemaligen Umformwerk: Kinder, Erwachsene und Hunde tummeln sich im imposanten Raum, der wie das Innere eines Turms aussieht. Auf den rechteckigen Glasplatten, die an einigen Stellen in den grauen Boden eingelassen sind, krabbeln Babys. Teenies mit Kopfhörern liegen in u-förmigen, mit zackigem grafitfarbigem Schaumstoff gepolsterten Wiegen. Junge und Junggebliebene laufen über den mit Papierschnipseln, Schotter, Kiesel, Zier- und Glassplitt gefüllten Sandkasten. So hinterlassen sie dort, auch wenn nur für eine Weile, nicht nur ihre Fußabdrücke, sondern auch eine flüchtige akustische Spur. Jedem Schritt auf diesem eigentümlichen Seismographen folgt ein Geräusch. Es knistert, es raschelt, es schallt und hallt, und alle haben ihren Spaß daran, sich an dieser interaktiven Performance zu beteiligen. Sogar als Musizierende, denn viel Platz wurde dem Drum Loom eingeräumt, wo jede(r) auf traditionellen oder schrägen Instrumenten wie verrostete Industrieöfen, ausrangierte Edelstahlwaschbecken oder Ölfässer Schlagzeug spielen und trommeln darf.
Partituren fürs Pfeifen und Murren
Das bunte und laute Spektakel Environment. A Future Retrospective in TRAFO Szczecin, eine gelungene Mischung aus Spielplatz, Volksfest und Geräuschtheater, ist das Werk von Zorka Wollny (* 1980 in Krakau). Die in Berlin wohnende polnische Malerin ist in Kunst wie im Leben eine Grenzgängerin. Sie pendelt zwischen ihrer Wahlheimat und Szczecin, wo sie an der Kunstakademie Interdisziplinarität (Fakultät für neue Medien) unterrichtet. Die Malerei ist für sie ein Bereich, der sich mit choreografischen und vokalen Mitteln am besten ausdrücken lässt. Sie transformiert Museen, Galerien, Fabriken, Schlösser und Straßen in Klangkörper, „arbeitet mit Architektur und Kontext als Partitur“, schreibt psychodelische Chorstücke über Dinge ohne Bedeutung, Polyphone Manifeste über Proteste der polnischen Frauen gegen die Verschärfung des extrem restriktiven und frauenfeindlichen Abtreibungsgesetzes sowie Widerstandslieder, die aus Murren, Flüstern, Pfeifen, einzelnen Silben und lautem Atmen bestehen und in Berlin, Warschau, Lodz, Istanbul, Graz, dem senegalischen Saint Luis live und nun auch im TRAFO Szczecin auf Tonband und Videos laufen. Zorka Wollnys Zukunftsretrospektive fordert Augen und Ohren, Hände und Füße, Köpfe und Körper des Publikums heraus. Es ist eine außergewöhnliche Schau: nicht linear und gradlinig, stimmungsvoll und dissonant, also voller Gegensätze, die sie ganz einfach und zugleich recht kompliziert unter Dach und Fach bringt.
Banal und transzendental
A Future Retrospektive erstreckt sich über alle offenen TRAFO-Ebenen wie das Untergeschoss, die zur ersten Etage führende Treppe, die Treppengalerien im ersten, zweiten und dritten Geschoss, und ist vor allem eine Dokumentation des von der Künstlerin in den letzten 15 Jahren geschaffenen flüchtigen – choreografischen und lautmalerischen – Werks. Zum einen experimentiert sie mit einer Disziplin, die als Verkörperung der Onomatopoesie (Laut-, Klangmalerei) im Raum bezeichnet werden kann. Zum anderen sind ihre Installationen, in der sie arte povera, minimal art, akustische und dingliche Readymades verbindet, ortsspezifisch. Die Architektur, in der Zorkas Ausstellungen stattfinden, ist jedes Mal eine Bühne, die sie mit Requisiten aus der unmittelbaren Umgebung bestückt. Den Stoff, aus dem ihre Objekte sind, fand sie in der Szczeciner Werft, in der Papier- und Kabelfabrik, in der Oper und im TRAFO-Keller. Es sind tatsächlich banale, alltägliche Dinge, die jedoch auf fast alle Sinne wirken und einen transzendentalen Touch haben. Die Künstlerin scheint eine Zauberin zu sein. Sie verwandelt Kabel in Kokons und Nester, aus denen Kinderstimmen ertönen, und Theaterstrahler in Vogelschwärme. Sie verleiht der dinglichen Banalität eine sonderbare Attraktivität und der gesellschaftlichen Realität eine Stimme, die mal still, mal schrill oder bedrohlich klingt. Denn, wie das Motto der Retrospektive lautet, „solange wir eine Stimme haben, müssen wir sie gebrauchen.“
Oxymoron tönt polyphon
Die Ausstellung unter dem zugleich gewöhnlichen und ungewöhnlichen Titel Environment. A Future Retrospective zeichnet sich durch eine besondere Herangehensweise an das Material aus, das Zorka Wollny zu einem vielstimmigen Gebilde aus mehr oder weniger abstrakten Sounds, visuellen Zeichen, Objekten und Wörtern arrangiert. Sprachlich sind die Namen ihrer Arbeiten Oxymorons, denn eine Retrospektive blickt in die Vergangenheit und hat mit Zukunft eigentlich nichts zu tun. Ein Wiegenlied (Lullabies To Wake Up) weckt nicht, es lullt ein; Schallplatten können nicht verschwinden (Vanishing Vinyls), es sei denn, sie sind in Handarbeit aus Wachs gefertigt. Drum Loom ist ein schöner Reim, vielleicht ein englischer Begriff aus der Musikbranche, aber im Deutschen passt Schlagzeug nicht zum Webstuhl. Die Kunst ist für Zorka Wollny ein subversives Spiel mit Gegensätzen, denen sie eine neue Bedeutung zuweist. Sprachwitz und Humor sind nicht die einzigen Merkmale ihrer verbalen und visuellen Schöpfungen. Sie hat ein Feeling dafür, was sich hinter dem mehrdeutigen Terminus Environment verbirgt: Umgebung, Umwelt, Happening, Performance und Politik. Auf Proteste, politische Willkür, gesellschaftliche Wut und Ohnmacht antwortet die Künstlerin und Aktivistin mit vokalen Aktionen im öffentlichen Raum, an denen sich ihre Freundinnen und Freunde, Bekannte und Unbekannte beteiligen. Sie ist eine überzeugende Teamworkerin und arbeitet mit Leuten, die ihr seit Jahren nahestehen wie zum Beispiel die Komponistinnen Jasmine Guffond und Christine Schönkhuber, die Kuratorin Joanna Warsza, die Philosophin Ewa Majewska und der Schlagzeuger der Berliner Band Einstürzenden Neubauten, N.U. Unruh, der fantastische Instrumente (darunter die vom Drum Loom) aus gebrauchten, gebrauchsfähigen oder gefundenen Objekten baut und darauf atemberaubend und ohrenbetäubend spielt.
Einfach nur eine Spur
2019 gründete Zorka Wollny in Berlin den Psychodelic Choir, an dem neben ihr sieben Künstlerinnen (Florence Freitag, Gosia Gajdemska, Irina Gheorghe, Pauline Payen, Karoline Strys, Lyllie Rouvière und Leah Buckareff) mitwirken. Ihr Auftritt bei der Eröffnung von A Future Restrospective im TRAFO Szczecin macht stumm, denn die von ihnen imitierten Laute der Vögel, Insekten, Naturgewalten und Fabelwesen lassen sich in Worte nicht fassen. Sie gaben ihr Konzert in völliger Dunkelheit auf der obersten Empore und füllten den ganzen Raum mit einem Klangteppich wie aus einem Traum jenseits von Gut und Böse. Das war ein einmaliges Ereignis und eine „ephemere Erfahrung“, die, wie Zorka meint, „nur hier und jetzt existiert, sich nicht wiederholen kann, denn jede Dokumentation einer solchen Aktion ist einfach nur ihre Spur.“ Nach dem Ende der Zukunftsretrospektive kehren die Stoffe und Dinge, aus denen Skulpturen, Klangobjekte und Installationen bestehen, an ihre Leihgeber und Produzenten zurück, wo sie repariert, weiter benutzt oder recycelt werden. Somit ist Environment auch ein Beitrag zum Thema, „wie Kunst in Zeiten der Klimakatastrophe (sowohl in den vier Wänden der Galerie als auch draußen) praktiziert werden kann.“ Das heißt: Nichts verschwenden, alles so oft wie möglich wieder verwenden, um die Menschheit und die von ihr gebeutelte (Um)-Welt wenigstens ein bisschen zu retten.
Urszula Usakowska-Wolff, https://www.art-in-berlin.de/, 28.03.2020
Zorka Wollny: Environment. A Future Retrospective
Kuratorin: Joanna Warsza
bis 30 May 2020
TRAFO Center for Contemporary Art